Was tragen Kollapsdynamiken zur Spaltung der Gesellschaft bei?

Eine der zur Zeit am heißesten diskutierten Fragen ist, wie die mögliche Spaltung unserer Gesellschaft zu erklären sei. Es gibt dazu viele unterschiedliche Erklärungsansätze. Dazu zählen ideologische und identitätspolitische Ansätze, marxistische Theorien, welche vor allem wirtschaftliche Ungleichheit ins Zentrum rücken, Theorien zum Einfluss sozialer Medien mit ihren Echokammern und Fake News und sozialpsychologische Ingroup-Outgroup-Dynamiken. Auch die Ost-West-Debatte erfährt in diesem Zusammenhang eine Renaissance.
Intuitiv scheinen mir diese Theorien aber etwas wesentliches auszuklammern. Es verwundert mich nämlich sehr, dass in keiner dieser Theorien der existenzbedrohende Zustand unserer Welt an sich als Grund für die Spaltung der Gesellschaft eine Rolle zu spielen scheint. Ist die Ursache dafür vielleicht eine Art "blinder Fleck", der in der Unfähigkeit besteht, sich die eigene Zerstörung und das mögliches Aussterben vorzustellen? Für das Aussterben der eigenen Spezies, einen globalen Kollaps oder Katastrophen dieser Größenordnung haben wir keinerlei Referenzwerte, was eine wissenschaftliche Betrachtung schwer bis unmöglich macht. Wir können auch feststellen, dass niemand in der politischen Parteienlandschaft auch nur annähernd so etwas wie einen Kollaps thematisiert. Dies sehen wir ganz eindeutig daran, dass eine Partei, wie die Grünen, deren Vertreter*innen mit Sicherheit wissen, wie sich die Klimakrise entwickeln wird, mit dem Slogan „Zuversicht“ in die Bundestagswahl 2025 gegangen ist. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass ein Staat immer Handlungsfähigkeit zeigen muss, um seine eigene Existenz zu rechtfertigen.

Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Debabatte um die Fragen einsteigen, ob eine gesellschaftlicher Zusammenbruch globalen Ausmaßes als unausweichlich betrachtet werden kann, wie so ein Prozess von statten geht und wann denn konkret damit zu rechnen sei. Ich möchte die Prämisse setzen, dass ein Großteil der Menschheit einen gesellschaftlichen Kollaps zumindest unterbewusst intuitiv als wahrscheinliches Zukunftsszeanario wahrnimmt.
Wenn wir uns also in einer bereits kollabierenden Gesellschaft befinden oder in einer die zumindest kurz davor stehen könnte, stellt sich die Frage, wie dieser Umstand per se diese Gesellschaft verändert. Wie Dmitry Orlov bereits 2013 feststellte ist ein Merkmal einer kollabierenden Gesellschaft der schwindende soziale Zusammenhalt. Dies allein könnte schon die Erklärung dafür liefern, dass bereits vorhandene unterschiedliche Interessenlagen nun verstärkt auseinanderdriften und zu einer Spaltung führen. Ich möchte als Merkmal einer kollabierenden Gesellschaft aber noch ein weitere Merkmal aufführen: die Zunahme an Dilemmata. Ein Dilemma ist eine Situation in der eine Person zwischen Optionen wählen muss, die alle keine gute Lösung darstellen. Die meisten kennen wohl das Trolley-Problem: Soll man einen Zug umleiten, um eine Person zu töten, aber fünf zu retten?
Ein aktuelles politisches Dilemma betrifft seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Frage um die Waffenlieferungen. Menschen, die politisch links sozialisiert sind und deren Identität eng mit Pazifismus und der Friedens-und Klimabewegung verbunden ist, müssen sich entscheiden, ob sie bereit sind ihre Identität und tiefsten Überzeugungen zu opfern, um die Ukraine zu unterstützen. Mehr Waffen bedeuten auch mehr Umweltverschmutzung und mehr Ausstoß von CO2.
Ein Beispiel für ein physikalisches Dilemma ist Global Dimming. Industrielle Emissionen, Abgase und Waldbrände setzen Partikel wie Schwefeldioxid und Ruß in die Atmosphäre frei. Diese Partikel reflektieren Sonnenlicht und sorgen letztendlich für Abkühlung. Das Dilemma besteht nun darin zu entscheiden, ob wir durch einen raschen Ausstieg aus den Fossilen einen relativ kurzfristigen Temperaturanstieg durch die saubere Luft in Kauf nehmen können und dafür langfristig CO2 einsparen oder ob der kurzfristige Temperaturanstieg uns nicht schon an die Kipppunkte bringt. Dieses Phänomen ist, wie die meisten Klimaphänomene natürlich extrem komplex und nicht eindeutig berechenbar.

Ich möchte nun behaupten, dass die Dilemmata aufgrund unserer ausbeuterischen und zerstörerischen Lebensweise in allen Bereichen zunehmen und entweder Vorboten, Begleiterscheinung oder Teil eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs sind. In jedem Falle zwingen uns Dilemmata zwangsläufig dazu uns für eine Seite zu entscheiden und dies um so mehr, wenn wir uns nicht bewusst darüber sind oder uns klar kommuniziert wird, dass wir uns in einem solchen befinden. Da Politik existenzielle Krisen und die damit verbundenen Dilemmata aber nicht anerkennen kann, um sich, wie oben beschrieben, nicht handlungsunfähig zu zeigen, schaukelt sich der Prozess der gesellschaftlichen Spaltung immer weiter auf.
Es bedarf meiner Meinung nach einer guten Orchestrierung aller uns zur Verfügung stehenden psychischen Mechanismen, ein vermutlich hohes Maß an psychischer Stabilität, ausreichend gute Bildung und ein stabiles und gut reflektierendes soziales Umfeld, um in diesem Spannungsfeld nicht in Spaltungstendenzen zu verfallen. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen halte ich dies allerdings für ein aussichtsloses Unterfangen und ein Privileg, welches nur wenigen Menschen teilen. Was ist nun zu tun? Ich schreibe diesen Text aus dem Wunsch heraus zu irgendeiner Veränderung beizutragen und anderseits glaube ich nicht mehr an eine solche. Auch dies ist ein Dilemma, welches viele Menschen kennen und teilen. Ich kann und möchte diesen Text nicht mit einem hoffnungsvollen Satz beenden und erkenne die Leser*innen als erwachsene, selbstverantwortliche Menschen an, denen auch diese Realität zuzumuten ist. Ich möchte mir außerdem nicht anmaßen in dieser Zwangslage eine Antwort zu wissen.

 

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